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  • AutorenbildKlemens Patek

Stimmeffekte im Pop - das Tüpfelchen auf dem i





Es ist ja nicht so, als wären Effekte beim Singen irgendeine abstrakte Kiste, in der es nur die geübtesten Sängerinnen und Sänger von uns überhaupt nur wagen, darin herumzukramen. Wetten, du verwendest selbst einige Effekte beim Singen, ohne dass du da groß darüber nachdenkst. Vibrato vielleicht. Oder hauchige Töne. Vielleicht schummelt sich auch die eine oder andere Ornamentation (Verzierung) in deine Gesangslinien? Ist doch gut so! Denn Effekte sorgen für das gewisse Etwas, schaffen Ecken und Kanten und vor allem: rufen Emotion hervor bzw. unterstreichen sie. Im klassischen Gesang ist das Vibrato das Um und Auf: Es gehört zum Klangideal. Kratzige, hauchige Töne sind im klassischeren Repertoire eher Fehl am Platz. Im Pop ist das anders: Schön ist, was gefällt. Und vielleicht können wir ergänzen: Schön ist, was authentisch ist. 


Wir können Effekte also von zwei Seiten betrachten. Wie setze ich Effekte richtig ein, was machen sie mit dem Lied, mit der Phrase, dem Ausdruck, der Interpretation? Und davor wäre natürlich wichtig zu wissen: Wie funktioniert ein Effekt technisch und wie bringe ich meinen Vokaltrakt dazu, ihn zu formen. Da könnten wir für jeden Effekt einzeln eine ganze Blog-Reihe starten … In der „Complete Vocal Technique“ sind einige Effekte sozusagen kategorisiert und anatomisch erforscht - was nicht heißt, dass es nicht mehr davon gibt - und vor allem unzählige Kombinationen: Hauch bzw. Singen mit Luft, Vibrato, Distortion, Creak und Creeking, sowie Ornamentation/Verzierungen, Rattle, Grunt und Growl.


Aber wir wollen heute einmal ein bisschen allgemeiner bleiben und nicht ganz so technisch. Effekte sind im Pop-Gesang das „Tüpfelchen auf dem i“. Was aber nicht heißt, dass wir jeden Ton und jede Phrase damit zupflastern sollten. Wie würde das denn klingen, was würde das denn im Zuhörenden auslösen? Das „Tüpfelchen auf dem i“ - da wäre es ja komisch, wenn wir es über alle Buchstaben setzen - um jetzt mal diese Analogie ein bisschen absurd weiterzudenken. 


Effekt ist Emotion


Das oberste Gebot für Effekte lautet: Sie müssen aus einer Emotion hervorgehen, einen interpretatorischen Wert hinzufügen. Manche Effekte setzt man ja intuitiv ein. Hauch kann evtl. Nähe/Intimität/Zerbrechlichkeit erzeugen, Distortion wiederum eher andere Gefühle transportieren, evtl. Zorn und Wut - auf leiseren Tönen aber genauso Zerbrechlichkeit, Trauer, Zerrissenheit. Wollen wir deshalb eine ganze Strophe mit einem Effekt versehen? Durchgehend? Natürlich nicht. Wir setzen Akzente. Wir unterstreichen. Ansonsten wird es rasch etwas unauthentisch und einfach zu viel.


Bei Effekten wie Vibrato und Ornamentation können wir uns ebenfalls fragen, was wir damit ausdrücken wollen. Vibrato ist für viele eine Klanggewohnheit, eine Art Signature-Klang von jedem einzelnen von uns. Dezent bis wild, schnell bis langsam, intensiv bis kaum merkbar. Umso mehr lohnt es sich, genau hinzuhören: Kann ich mit der Variabilität meines Vibratos die Interpretation beeinflussen, eine Emotion hervorheben, ein Wort klanglich unterstreichen? Bzw. technisch stellt sich hier oft die Frage: Kann ich mein Vibrato überhaupt kontrollieren?


Umgekehrt ist Ornamentation (schnelle Runs, Verzierungen) für manche ebenso eine Art Gewohnheit geworden. Man zeigt halt gerne, was man kann. Und dagegen ist ja manchmal nichts einzuwenden. Aber braucht jede zweite Phrase einen „schnellen Abgang“? Braucht dieser eine lange Ton wirklich eine Aguilera-Zusatzschleife? Und wenn ja: Was will ich damit ausdrücken?


Jetzt denkt vielleicht die eine oder der andere von euch: Ich denk’ doch nicht so viel nach beim Singen, ich will einfach ausdrücken, was ich spüre. Wunderbar! Das ist doch großartig, wenn das klappt. Aber einerseits klappt das vielleicht nicht für jede und jeden - und nicht bei jedem Lied. Andererseits mag das beim ersten Konzert/Gig/Klassenabend vielleicht (!) funktionieren (wobei es da in Sachen Nervosität auch einiges gibt, das einem vom Flow ablenken könnte), aber sobald ich das Konzert, das Lied zehnmal spiele, stellt sich die Frage: Klappt das mit „aus dem Bauch heraus“ singen immer gleich gut? Oder sollte ich mir doch im Vorhinein schon die Fragen stellen, was ich wo wie ausdrücken möchte? Und wenn mich der Flow, die Emotion, woanders hintreibt - dann darf das ja auch so sein.


Effekt ist Variation


Und das ist ja das Schöne an Effekten. Ich kann auch den Subtext, den Vibe, das Gefühl minimal anpassen - oder neue Wege suchen. Wenn du zum Beispiel dort, wo du sonst immer einen Hauch von Creaking dazugemischt hast, ausprobierst, eher in Richtung Distortion zu gehen: Es wird anderes in den Ohren und Köpfen deiner Zuhörerinnen und Zuhörer auslösen. Oder du verzichtest in einer Strophe komplett (!) auf jegliches Vibrato. Was geschieht dann mit dem Klang, dem Vibe, dem Feeling, der Geschichte?


Und somit haben wir nicht nur klanglich beinahe endlose Variationsmöglichkeiten - mit allen Modes und Klangfarben - sondern auch mit den Effekten. Jeder Effekt kann auf jedem Mode gesungen werden. Manche scheinen dabei eine Art „natürlichere Paarung“ zu ergeben, wie Overdrive und Distortion. Andere kombinieren sich etwas ungewohnter - und gerade das kann reizvoll sein. Aber das hängt dann doch auch wieder von Singgewohnheiten bzw. auch Hörgewohnheiten ab.


Sich viele Fragen stellen, sich selbst aufnehmen - oder andere befragen


Es ist also wichtig, zu wissen: Was sind deine Gewohnheiten? Und ebenso wichtig ist es, die Alternativen und für dich ungewohnten Klänge zu kennen und auszuprobieren. Dazu ist es ungemein hilfreich, wenn du dich aufnimmst beim Singen. Evtl. deine Performance auch einmal in Ruhe anhörst, auf dich wirken lässt und dich rückwirkend fragen, ob deine Effekte die Geschichte unterstreichen und unterstützen, die du erzählen willst - oder manchmal in Richtung Show-off abdriften. 


In Sachen Interpretation kann es auch wahnsinnig spannend sein, Menschen danach zu fragen, denen man vertraut, deren Meinung man auch annehmen kann. „Was hast du gespürt?“, „Welche Emotionen hat das Lied bei dir ausgelöst?“. Das kann sich natürlich mit dem decken, was du gefühlt hast - muss es aber nicht. Und es ist auch komplett egal. Denn jede Emotion, die du in eine Zeile legst, schwingt in den Zuhörenden anders wieder - meist ähnlich, aber nie gleich - und das ist doch das Schöne an der Kunst generell.


Und so sind Effekte im Pop eine wahre Fundgrube an Variation und Werkzeuge zu Interpretation und Storytelling. Unter zwei Bedingungen: Sie stehen für eine Emotion (und sind nicht reine Angeberei) und du hast die Effekte technisch unter Kontrolle - also du kannst den Effekt jederzeit auch wieder weglassen und setzt den Effekt technisch richtig ein, er macht dich also nicht heiser.


Es lohnt sich also ein Herumexperimentieren und das Ausprobieren neuer Klänge. Auch wenn du immer „aus dem Bauch heraus“ deine Bühnenperformance fühlst und deinen Gesang einfach machen lässt. Ab und zu kann es ja nicht schaden, seine Gewohnheiten zu hinterfragen. Und wer neues Ausprobieren will, dem bleibt ein wenig Üben nicht erspart.



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